Der Leiter der UN-Nothilfe, Tom Fletcher, warnt, dass das Nachkriegs-System der internationalen Zusammenarbeit vor seiner „größten Bewährungsprobe seit seiner Gründung“ steht und dass die humanitäre Gemeinschaft mit einer massiven Krise in Bezug auf „Finanzierung, Moral und Legitimität“ konfrontiert ist. Diese deutliche Warnung kommt zu einem Zeitpunkt, an dem die extremen Mittelkürzungen für humanitäre Hilfe durch die Vereinigten Staaten weltweit verheerende Auswirkungen haben, Hunderttausende Menschenleben gefährden und zig Millionen Menschen ohne Zugang zu der dringend benötigten Hilfe zurücklassen.
Schon vor den jüngsten Ereignissen stand das globale humanitäre System vor einer massiven Finanzierungskrise, nachdem der Bedarf jahrelang gestiegen war und die Geber nicht in der Lage oder nicht willens waren, auf die Nöte der Menschen zu reagieren. Jahrelang waren die Vereinigten Staaten der weltweit führende Geber für humanitäre Hilfsmaßnahmen, gefolgt von der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten.
Im vergangenen Jahr entfielen mehr als 40 Prozent der vom Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) erfassten weltweiten humanitären Mittel auf die USA.
„Das internationale System der Nachkriegszeit steht vor der größten Bewährungsprobe seit seiner Gründung. Die humanitäre Gemeinschaft sieht sich mit einer massiven Finanzierungs-, Moral- und Legitimitätskrise konfrontiert“, sagte Tom Fletcher, Untergeneralsekretär der Vereinten Nationen für humanitäre Angelegenheiten und Koordinator für Nothilfe, am Donnerstag vor dem Ständigen Interinstitutionellen Ausschuss (IASC).
Der Ständige Interinstitutionelle Ausschuss (Inter-Agency Standing Committee, IASC) ist das älteste und hochrangigste Forum für humanitäre Koordination weltweit, in dem führende Vertreter von 18 UN- und Nicht-UN-Organisationen zusammenkommen. Der IASC wurde im Juni 1992 nach einer Resolution der UN-Generalversammlung gegründet.
Vor dem Hintergrund der Aussetzung der meisten humanitären Finanzierungen durch die neue US-Regierung in Washington forderte Fletcher die humanitäre Gemeinschaft auf, „ruhig, mutig, prinzipientreu und vereint“ zu sein, ohne die USA zu erwähnen.
„Wir müssen das Plädoyer für internationale Solidarität neu erstreiten. Wir können aus dem außergewöhnlichen Fortschritt, den die humanitären Helfer über Jahrzehnte hinweg gemacht haben, Zuversicht schöpfen. Die Mission ist richtig. Unsere Verbündeten sind immer noch da draußen“, sagte er.
Der Nothilfekoordinator führte aus, dass die humanitäre Gemeinschaft vier Dinge vorrangig tun müsse.
„Erstens ist es wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, warum wir hier sind: um Leben zu retten. Wir haben uns darauf geeinigt, unabhängig, neutral und unparteiisch zu bleiben. Das bedeutet nicht, dass wir uns nicht auf eine Seite stellen: Wir sind auf der Seite derer, die am dringendsten Hilfe benötigen“, sagte er.
Sein zweites Anliegen war die Notwendigkeit, Doppelarbeit und Bürokratie abzubauen und das System effektiver und effizienter zu gestalten.
„Auch die Geber müssen Vereinfachungen vornehmen. Wir müssen innovativ sein oder wir werden obsolet. Wir werden Prioritäten setzen und die schwierigsten Entscheidungen treffen“, fügte Fletcher hinzu und wies darauf hin, dass er dringende Vorarbeiten in Auftrag gegeben habe, um herauszufinden, "wie wir die 100 Millionen Menschen in größter Not erreichen können".
Nach Angaben der Vereinten Nationen benötigen Anfang 2025 weltweit etwa 307 Millionen Menschen humanitäre Hilfe und Schutz, was bedeutet, dass in diesem Jahr Hunderte Millionen Menschen möglicherweise ohne Hilfe auskommen müssen.
Fletcher sagte, dass sich humanitäre Organisationen nicht auf traditionelle Finanzierungsquellen und Regierungen verlassen können und neue Partner finden müssen, darunter den privatwirtschaftlichen Sektor und die Weltbank.
„Ich glaube, dass es eine Bewegung von Milliarden von Menschen gibt, denen etwas an der Sache liegt und die solidarisch mit den Bedürftigsten handeln wollen. Wir sollten eine öffentliche Kampagne starten, um die von den Regierungen hinterlassenen Lücken zu schließen, und dabei für jedes Land einen Betrag in Höhe von 0,7 Prozent anstreben“, schlug Fletcher vor.
Der UN-Nothilfechef berichtete, dass er vor der IASC-Sitzung mit allen Koordinatoren für humanitäre Hilfe gesprochen habe, „um zu hören, was sie brauchen“, und dass er sie erneut zusammenbringen werde, um darzulegen, wie der Ständige Interinstitutionelle Ausschuss sie unterstützen würde.
Fletchers dritter Punkt bestand darin, die Dezentralisierung voranzutreiben und den lokalen Hilfsorganisationen, „welche die Hauptlast der Kürzungen“ tragen, mehr Befugnisse und Verantwortung zu übertragen. Die humanitäre Hilfe sollte „viel näher an den Menschen sein, denen wir dienen“.
„Wenn wir unsere Arbeit einstellen, dann richtig. Anderen die Möglichkeit geben, die Bemühungen fortzusetzen. Keinen Schaden anrichten. Die Mittel in besseren Zeiten wieder aufstocken“, fügte er hinzu.
Der vierte Aspekt, den er ansprach, betraf die Notwendigkeit, dass die Helfer ihre Arbeit energischer und entschlossener verteidigen müssten.
„Wir müssen der Ära der Straflosigkeit ein Ende setzen: Angriffe auf Zivilisten und Helfer müssen aufhören und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Wir müssen deutlicher kommunizieren, welche Auswirkungen wir haben und welche Kosten Untätigkeit mit sich bringt, wobei die Menschlichkeit und nicht die Institutionen im Mittelpunkt stehen sollten“, sagte Fletcher.
„Dies ist keine Übung“, betonte er. „Wir sind unterfinanziert, überlastet und werden angegriffen. Aber wir haben die Auseinandersetzung nicht verloren. Unsere Sache ist mächtig und unsere Bewegung ist stark.“
Weitere Informationen:
Vollständiger Text: Erklärung des Nothilfekoordinators Tom Fletcher – Humanitärer Neustart, Ständiger interinstitutioneller Ausschuss (IASC), Rede, veröffentlicht am 20. Februar 2025 (in Englisch)
https://interagencystandingcommittee.org/inter-agency-standing-committee/statement-emergency-relief-coordinator-tom-fletcher-humanitarian-reset-0