Fast 580.000 Menschen, darunter 300.000 Kinder, sind in Haiti auf der Flucht vor der Gewalt bewaffneter Banden, eine Zunahme von 60 Prozent seit März, so die neuesten Daten der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Nach Angaben der UN-Organisation ist dieser Anstieg auf die Verschlechterung der Sicherheitslage im Großraum von Port-Au-Prince, der Hauptstadt des Landes, zurückzuführen, insbesondere zwischen Ende Februar und April. Haiti ist numehr das Land mit den meisten Vertreibungen weltweit aufgrund von Gewalt im Zusammenhang mit Kriminalität.
"Die Zahlen, die wir heute sehen, sind eine direkte Folge der jahrelangen Spirale der Gewalt - die im Februar einen neuen Höhepunkt erreichte - und ihrer katastrophalen humanitären Auswirkungen", sagte Philippe Branchat, Leiter der IOM in Haiti, am Dienstag in einer Erklärung.
"Die nicht enden wollende Krise in Haiti zwingt immer mehr Menschen dazu, ihre Häuser zu verlassen und alles zurückzulassen. Das ist nichts, was sie leichtfertig tun. Außerdem ist es für viele von ihnen nicht das erste Mal."
Seit Ende Februar wird Port-au-Prince von einer noch nie dagewesenen Gewalt heimgesucht, und die haitianische Hauptstadt war nach der Schließung ihres Flug- und Seehafens wochenlang von der Außenwelt abgeschnitten. Inmitten der anhaltenden Gewalt und Isolation wurde das haitianische Gesundheitssystem schwer in Mitleidenschaft gezogen, so dass die Menschen ohne grundlegende medizinische Versorgung dastehen.
Angesichts der zunehmenden Gewalt in der Hauptstadt flohen zwischen dem 8. März und dem 9. April etwa 95.000 Menschen aus Port-au-Prince, 60 Prozent von ihnen in die südlichen Departements. Die Gewalt hält seit dem 29. Februar an, einschließlich koordinierter Angriffe bewaffneter Banden auf Polizeistationen, Krankenhäuser, Schulen, Wohnhäuser, Kirchen, Banken und Handelseinrichtungen sowie auf den Hafen und den Flughafen.
Anhaltende bewaffnete Angriffe und Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppen und der Polizei in einigen Gemeinden in Port-au-Prince führen zu neuen Vertreibungen und zwingen bereits vertriebene Menschen erneut zur Flucht.
Zusätzlich zu den Vertreibungen in und um Port-au-Prince haben die Zunahme der Gewalt und die effektive Belagerung durch bewaffnete Gruppen immer mehr Menschen zur Flucht in die Nachbarprovinzen gezwungen. Allein in den letzten drei Monaten hat sich die Zahl der Binnenvertriebenen in der südlichen Region von 116.000 auf 270.000 verdoppelt.
Ströme von vertriebenen Familien, die Sicherheit suchen, setzen die örtlichen Gesundheitsdienste, die vor der jüngsten Eskalation der Krise kaum in der Lage waren, die Nachfrage zu bewältigen, zusätzlich unter Druck. Die Schließung des Flughafens und der Häfen zwischen Februar und Mai hat zu einer erheblichen Unterversorgung der medizinischen Einrichtungen geführt.
Kämpfe zwischen Banden rund um den internationalen Flughafen von Port-au-Prince zwangen alle kommerziellen Fluggesellschaften, den Betrieb einzustellen. Am 20. Mai wurde der Flughafen wieder geöffnet und einige Flüge wurden wieder aufgenommen. Seit der Wiedereröffnung ist der Betrieb eingeschränkt, wobei es zu erheblichen Rückständen kam und humanitäre Lieferungen im Hafen blockiert wurden.
Am Montag landeten zwei vom Welternährungsprogramm (WFP) organisierte Frachtflüge mit 55 Tonnen Medikamenten, Hilfsgütern und Hygieneartikeln in der Hauptstadt. Nach Angaben eines UN-Sprechers sollen die Hilfsgüter zur Unterstützung von Vertriebenen und zur Vorbereitung auf die Hurrikansaison verwendet werden.
Seit Ende Februar ist der Transport von Gütern wie Medikamenten und Treibstoff zwischen der Hauptstadt und den Provinzen stark eingeschränkt, wodurch sich die humanitäre Krise weiter verschärft hat. Das Gesundheitssystem des Landes steht nach wie vor vor gewaltigen Herausforderungen, die sowohl durch die jüngste Gewalt als auch durch jahrelange Unterinvestitionen verursacht wurden. Derzeit arbeiten nur 20 Prozent der Gesundheitseinrichtungen in Port-au-Prince regulär.
Nach Angaben der IOM werden fast alle vertriebenen Frauen, Kinder und Männer derzeit von Gemeinschaften aufgenommen, die bereits mit überlasteten Sozialdiensten und schlechter Infrastruktur zu kämpfen haben, was zusätzliche Sorgen über Spannungen aufkommen lässt, die zu weiterer Gewalt führen könnten. In den südlichen Gebieten, die bereits durch das Erdbeben von 2021 geschwächt waren, lebt heute fast die Hälfte der Binnenvertriebenen in Haiti.
Im Großraum Port-au-Prince leben nach Angaben der UN-Organisation zwei Drittel der Binnenvertriebenen in spontanen Siedlungen mit sehr begrenztem Zugang zur Grundversorgung. Schulen und Bildungseinrichtungen bilden derzeit 39 der 96 aktiven Vertriebenenstandorte und beherbergen 61.000 Menschen, was den Schulbesuch stark einschränkt.
Seit Ende Februar hat die UN-Organisation fast 5 Millionen Liter sauberes Wasser an rund 25.000 Menschen verteilt und 22 Handpumpen instand gesetzt. Mehr als 37.000 Menschen wurden mit anderen Hilfsgütern wie Decken, Wasserbehältern, Solarlampen, Küchengeräten und Plastikplanen versorgt.
Die humanitäre Krise in Haiti ist durch eine rasche Eskalation der Bandenkriminalität gekennzeichnet, die das Leid der Menschen, die bereits unter einem kritischen Maß an Ernährungsunsicherheit, Armut und dem Zusammenbruch der Grundversorgung leiden, noch vergrößert hat. Derweil fast 600.000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben wurden, sitzen andere in von Banden kontrollierten Vierteln fest,
Schätzungsweise 2,7 Millionen Menschen, darunter 1,6 Millionen Frauen und Kinder, leben in Gebieten, die faktisch von Banden kontrolliert werden. 3 Millionen haitianische Kinder, die in die zügellose Gewalt der Banden geraten sind, benötigen humanitäre Hilfe, darunter Tausende, die an schwerer Unterernährung zu sterben drohen. Nach Angaben des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) sind im Großraum Port-au-Prince schätzungsweise 1,2 Millionen Kinder in Gefahr.
Inmitten einer sich verschärfenden Sicherheitskrise hat der Hunger in Haiti ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht. Etwa 4,97 Millionen Menschen - fast die Hälfte der Bevölkerung des Landes - sind jetzt akut von Ernährungsunsicherheit betroffen, darunter mehr als 1,64 Millionen Menschen in Notlagen, so die jüngste Analyse der Integrierten Klassifizierung der Ernährungssicherheitsphase (IPC).
Bewaffnete Banden kontrollieren oder beeinflussen inzwischen mehr als 90 Prozent der Hauptstadt und haben sich auf die ländlichen Gebiete des Landes ausgebreitet. Sie haben Massaker, Entführungen, Menschenhandel und sexuelle Gewalt verübt. Die jüngsten Angriffe und Gewalttaten der bewaffneten Gruppen haben Haiti in eine dramatische Sicherheitskrise gestürzt, bei der die Zivilbevölkerung weit über die Hauptstadt hinaus unter Beschuss steht.
Hinsichtlich der Krise der politischen Institutionen des Landes hat es in den letzten Wochen einige positive Entwicklungen gegeben.
Am 12. April wurde ein offizielles Dekret zur Einsetzung des Übergangspräsidentenrates erlassen, der für die Auswahl des nächsten Premierministers und des Kabinetts sowie für die Ernennung der Mitglieder des provisorischen Wahlrates zuständig ist. Am 28. Mai wurde Garry Conille zum neuen Premierminister des Karibikstaates ernannt. Am 11. Juni ernannte der Übergangsrat von Haiti ein neues Kabinett.
Nach Angaben des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) trafen sich Premierminister Conille und seine Regierung sowie Mitglieder des Übergangsrates letzte Woche in Port-au-Prince mit humanitären Akteuren sowie technischen und finanziellen Partnerorganisationen.
Sie erörterten den Stand der Vorbereitungen auf die Hurrikansaison, bewerteten den Status der im Voraus bereitgestellten Hilfsgüter und prüften die Komplementarität der Ressourcen zwischen den internationalen Partnern und der Regierung, um eine optimale Vorbereitung und Reaktion zu gewährleisten. Conille rief die humanitären Organisationen dazu auf, ihre Koordinierung mit der Regierung zu verstärken.
UN-Generalsekretär António Guterres hat die Amtseinführung der neuen haitianischen Regierung begrüßt. Nach Angaben seines Sprechers ermutigte er die haitianischen Akteure, den Übergang zur Wiederherstellung der demokratischen Institutionen durch die Abhaltung von Wahlen stetig voranzutreiben, und sagte, dass dieser positive Meilenstein mit dringend benötigten Sicherheitsgewinnen einhergehen sollte.
Guterres wiederholte seine Forderung nach einer raschen Entsendung der multinationalen Sicherheitsunterstützungsmission (MSS) in das Land, um die haitianische Nationalpolizei bei der Bewältigung der schwierigen Sicherheitslage zu unterstützen. Die geplante Entsendung der MSS-Mission hat sich bereits mehrfach verzögert.
Nach Einschätzung der Vereinten Nationen benötigt Haiti eine Kombination aus gestärkten nationalen Polizeikräften, der raschen Entsendung der MSS-Mission und glaubwürdigen Wahlen, um das Land wieder auf den Pfad der Sicherheit und Stabilität zu bringen.
UN-Menschenrechtsexperten riefen am Donnerstag dazu auf, dass die Sicherheitsmission in Haiti die nationale Polizei unterstützen und der haitianischen Bevölkerung Sicherheit bringen solle, und zwar unter Bedingungen, die den internationalen Menschenrechtsnormen und -standards entsprechen.
"Wir fordern eine umfassende Ausbildung für die MSS-Mission, insbesondere zum Schutz der Bevölkerung, einschließlich des Schutzes von Kindern, und zur Wahrung der Unterscheidung von humanitären Operationen", so die Experten.
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden in diesem Jahr 5,5 Millionen Menschen - fast die Hälfte der Bevölkerung - auf humanitäre Hilfe und Schutz angewiesen sein. Doch der diesjährige Plan für humanitäre Hilfe für Haiti, der 674 Millionen Dollar vorsieht, ist mit 156 Millionen Dollar nur zu 23 Prozent finanziert.
Die Rechtsexperten bezeichneten die karge Mittelausstattung als unzureichend, um die schwere humanitäre Krise zu bewältigen.
"Es besteht ein dringender Bedarf an mehr humanitärer Hilfe, einschließlich Nahrungsmitteln, Wasser, medizinischer Versorgung, Produkten für die Menstruations- und Müttergesundheit sowie Unterkünften", warnten die unabhängigen Experten und forderten die Geber, Entwicklungspartner und humanitären Akteure auf, dem Schutz der Binnenvertriebenen sowohl in formellen als auch in informellen Situationen Vorrang einzuräumen.
Weitere Informationen
Vollständiger Text: Haiti: Steigende Zahl von Vertriebenen braucht dringend Schutz und vorrangige Hilfe, UN-Experten drängen, Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, Pressemitteilung, veröffentlicht am 20. Juni 2024 (in Englisch)
https://www.ohchr.org/en/press-releases/2024/06/haiti-soaring-number-displaced-desperately-need-protection-and-aid-priority
Vollständiger Text: Anhaltende Krisen in Haiti führen zu einem 60-prozentigen Anstieg der Vertreibung seit März, IOM, Pressemitteilung, veröffentlicht am 18. Juni 2024 (in Englisch)
https://www.iom.int/news/protracted-crises-haiti-drive-60-cent-increase-displacement-march